Für ein angemessenes Gedenken, ein aktives Erinnern und ein humanistisches Handeln in der Gegenwart
Im April 2017 besuchten wir als Bon Courage e.V. im Rahmen einer Gedenkstättenfahrt verschiedene Orte nationalsozialistischer Verbrechen in Tschechien, welches in der Zeit von 1939 – 1945 das von den Nazis okkupierte „Protektorat Böhmen und Mähren“ war. Neben den ehemaligen Konzentrationslagern Theresienstadt und Leitmeritz besuchten wir unter anderem auch Lidice – ein Dorf, welches die Nazis im Zuge einer Vergeltungsaktion, aufgrund des Attentats auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich, buchstäblich auslöschten. Sie sprengten und brannten die Gebäude nieder, alle Männer über 9 Jahren wurden sofort erschossen. Die Frauen wurden nach Ravensbrück deportiert und ermordet, die 98 Kinder zunächst auf Basis rassistischer Kriterien selektiert und anschließend nach Lodz deportiert. 14 von ihnen wurden in deutsche Familien gegeben, der Rest in Gaswagen in Kulmhof ermordet.
Doch um Theresienstadt, Leitmeritz oder Lidice soll es in diesem Offenen Brief nicht gehen, so viel wir auch dazu sagen könnten und möchten. In diesem Offenen Brief kritisieren wir den aktuellen staatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit einer Gedenkpolitik und Erinnerungskultur, die den Opfern des sogenannten „Zigeunerlagers Lety“ ausschließlich Verhöhnung entgegenbringt. Wir skandalisieren die Zustände in einer postnazistischen Gesellschaft wie Deutschland sowie in Tschechien und anderen osteuropäischen Staaten, wo die Diskriminierungen gegen Sinti*zze und Roma*nja nach wie vor aufgrund eines allgemein geteilten Antiziganismus verheerend sind. Und wir fordern dazu auf, die Schweinemast auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Lety zu schließen, um ein menschenwürdiges Gedenken zu ermöglichen.
Das Lager Lety, welches aus einem Arbeitsstraflager hevorging, bestand von August 1942 bis zum Mai 1943 als sogenanntes „Zigeunerlager“, auf Weisung der Deutschen mit ausschließlich tschechischer Gendarmerie als Wachpersonal. Es basierte auf einer Ideologie, die bis heute gesellschaftlich unverstanden ist und nach wie vor auf eine breite Zustimmung, sowohl in der deutschen, als auch der tschechischen Bevölkerung stößt: der Vorstellung, die als „Zigeuner“ stigmatisierten Personen würden aufgrund ihrer Gene „arbeitsscheu“ bzw.“-unfähig“ sein, weshalb ihnen – im Nazijargon – „das Arbeiten beigebracht“ werden solle. Bis heute ist dieses traditionelle Bild der quasi via Geburt zum devianten Verhalten gezwungenen Menschen („asozial“ oder „kriminell“, „arbeitsscheu“ oder „faul“ zu sein) dominant. Auf den wenigen Tafeln, die in der „Gedenkstätte“ zu betrachten sind, wird so beispielsweise der Mythos aufrechterhalten, es hätte sich bei Lety tatsächlich um eine Art Erziehungslager gehandelt, um den Inhaftierten zivilisatorische Grundeigenschaften beizubringen. So wird jedoch das Barbarische der nationalsozialistsichen Ideologie verschleiert und verharmlost, es wird schlicht Geschichtsverfälschung betrieben. Die in Lety Inhaftierten ca. 1300 Personen sollten – so die nationalsozialistische Logik – durch harte Zwangsarbeit zermürbt und nach ihrer Deportation nach Auschwitz vernichtet werden, um damit „das Verbrechertum“ im Gesamten auszulöschen. Lety kann somit als Teil eines Vernichtungsprozesses begriffen werden, der von den Deutschen initiiert und vorangetrieben, sowie von seinen Kollaborateuren und Kooperationspartnern unterstützt wurde. Umso schockierender war es für uns, den Zustand der Gedenkstätte und des Geländes zu sehen.
Dort, wo über 327 Sinti*zze und Roma*nja ermordet und von wo über 513 von ihnen nach Auschwitz deportiert wurden, befindet sich heute eine unerträglich stinkende Schweinemast. Wir waren entsetzt von dem Gestank, der selbst bei gutem Wetter alles in der näheren Umgebung erfüllt und wir können nicht verstehen, wie an einem Ort der Versklavung und Vernichtung eine Art Schlachtbetrieb seine Geschäfte machen kann. Zum Gedenken befindet sich in Lety heute lediglich ein einzelner Gedenkstein auf dem Gelände, unter ihm ein bisher kaum untersuchtes Massengrab sowie ein paar Informationstafeln, die vornehmlich auf Tschechisch formuliert sind. Wer hier denkt, es handele sich um einen gewöhnlichen und angemessenen Umgang, irrt (außer bei der Gewöhnlichkeit, denn ein solches Gedenken scheint, so traurig es ist, normal zu sein). Die Informationstafeln wahren den Anschein, es handele sich um ein adäquates Erinnern, doch bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass diese lediglich der Imagepflege der tschechischen Politik dienen: Die angebotenen Informationen sind teils widersprüchlich, teils fehlerhaft und dienen – wer einmal davor steht und des Tschechischen fähig ist, wird es sofort erkennen – der Selbstdarstellung der verantwortlichen Politiker*innen. An einer Aufarbeitung oder gar Beschäftigung mit dem Themenkomplex der Verfolgung und Vernichtung der Sinti*zze und Roma*nja fehlt es. Mit Ausnahme eines amerikanischen Genealogen und einer handvoll Forscher*innen, hat niemand Lety bisher Aufmerksamkeit geschenkt, was angesichts der voranschreitenden zeitlichen Distanz zum Geschehenen mehr als erschreckend ist. Für sich genommen stellen der staatliche wie gesellschaftliche Umgang Tschechiens mit den Verbrechen der Nazis und ihrer Kollaborateure im Fall Lety bereits genug Zynismus und Menschenverachtung dar. Der Umgang des deutschen Staates mit den Hinterbliebenen jedoch fügt diesem Konglomerat aus Zynismus, Menschenverachtung und heuchlerischer Imagepflege – welche ebenso für Deutschland treffend sind – eine weitere Dimension hinzu: die der Verhöhnung. Von den tausenden Menschen, die in Lety inhaftiert wurden, überlebten nur wenige und kämpften jahrzehntelang für eine Entschädigung. Das, was ihnen angetan wurde, sollte – so die Fürsprecher*innen der Hinterbliebenen – zumindest versucht werden zu entschädigen. Nach über 70 Jahren schließlich rang sich der deutsche Staat durch und beschloss, mit welcher Summe sich die Überlebenden zufriedenstellen sollten. Seitdem steht fest, wie viel die Entrechtung, Entmenschlichung, Versklavung und Ermordung von Menschen aufgrund einer rassistischen Ideologie wert sind: exakt 2.500 Euro pro Person. Dem Selbstbild Deutschlands, „die Verantwortung zu tragen“, die aus den Verbrechen des 20. Jahrhunderts resultierte, steht das diametral entgegen. Deutschland teilt damit den Umgang Tschechiens nicht nur, sondern führt ihn weiter: Während die tschechische Politik Geschichtsklitterung betreibt, verhöhnt Deutschland seine Opfer zusätzlich. So wird fortgeführt, was die Nazis begonnen haben: Weil ihre Vernichtung mittlerweile moralisch verpöhnt ist, werden Sinti*zze und Roma*nja weiterhin an den Rand der Gesellschaft gedrängt bzw. dort behalten. Als wäre all das nicht bereits genug, ist Deutschlands Migrations- und Asylpolitik darauf ausgerichtet, Sinti*zze und Roma*nja – und dabei auch Nachfahren der Überlebenden – in vermeintlich sichere Herkunftsstaaten wie Serbien, Mazedonien oder den Kosovo abzuschieben und damit in die sichere Verelendung sowie in ein Leben voller Feindseligkeit und Angst. Dem muss sich mit aller Kraft widersetzt werden.
Wir erklären uns deshalb solidarisch mit den Opfern des Holocaust und ihren Hinterbliebenen. Der Auffassung der tschechischen Gesellschaft, Lety hätte zu Recht bestanden, da sich dort nur „Arbeitsunwillige“ befunden hätten, muss entschieden widersprochen werden. Lety ist als Teil der Vernichtungsmaschinerie an den Sinti*zze und Roma*nja zu begreifen.
- Für ein menschenwürdiges Gedenken an alle Opfer der Nazis und ihrer Kollaborateure!
- Für eine würdevolle Entschädigung der Opfer!
- Für eine Schließung der Schweinemast-Anlage und für einen angemessenen Gedenkort mit korrekten geschichtlichen Informationen!
- Gegen die Instrumentalisierung des Holocaust für aktuelle politische Zwecke!
- Gegen die offizielle Erinnerungspolitik Deutschlands & Tschechiens!
Bon Courage e.V. und die Teilnehmer*innen der Gedenkstättenfahrt nach Tschechien, Mai 2017