Auf den Spuren nationalsozialistischer Verbrechen in Prag, Lety, Litomerice, Theresienstadt
Bericht eines Teilnehmers
Wie schon in den vergangenen Jahren haben wir mit unserem Verein Bon Courage e.V. auch 2017, vom 17. bis zum 22. April, eine Gedenkstättenfahrt organisiert, die uns erneut für sechs Tage auf die Spuren nationalsozialistischer Verbrechen geführt hat. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren bildete jedoch nicht Polen, sondern die ehemalige Tschechoslowakei unser Ziel. Was wir in dieser Zeit alles gesehen und erlebt haben, könnt ihr dem folgenden Bericht entnehmen.
Tag 1
Am Vormittag dieses Ostermontags sammelte der von uns gecharterte Bus die Teilnehmer*innen der diesjährigen Gedenkstättenfahrt in Leipzig beziehungsweise Burgstädt ein. Erwartungsfreudig brachen wir in Richtung Prag auf, um nach verhältnismäßig kurzer Fahrt am frühen Nachmittag in der Hauptstadt Tschechiens einzutreffen. Zunächst hieß es, in unser dortiges Hostel einzuchecken, wobei wir uns mit zwei 14-Personen-Zimmern zufrieden geben mussten. Die Erfahrungen der kommenden Tage haben jedoch gezeigt, dass die sich angesichts der Zimmergröße bei einigen anfänglich ausbreitende Skepsis unbegründet blieb. Nachdem wir Rucksäcke, Koffer und Taschen in den beiden Zimmern verstaut hatten, begaben wir uns zu Fuß auf den Weg in Richtung Zentrum, um unsere Euro in die benötigten tschechischen Kronen umzutauschen. Unzufrieden mit dem Tauschkurs, den uns zwei Wechselstuben anboten, zogen wir immer weiter, bis wir schließlich einen günstigen Kurs ergattern konnten. Dummerweise hatte der Himmel mittlerweile seine Schleusen geöffnet und wir uns auf dem Rückweg obendrein noch ein klein wenig verlaufen, so dass wir erstens völlig durchnässt und zweitens mit einiger Verspätung zurück im Hostel eintrafen. Im Aufenthaltsraum des Hostels erläuterten wir Organisator*innen der Gruppe schließlich diverse organisatorische Dinge – so unter anderem den Ablauf des verbleibenden wie auch darauffolgenden Tages sowie unser Konzept der allabendlich von uns angebotenen Reflexionsrunden, in denen den Teilnehmer*innen im Rahmen von Kleingruppen und unter Beteiligung einer Person der Organisationscrew die Möglichkeit gegeben wird, inhaltliche Nachfragen zu stellen und sich gemeinsam über ihre Eindrücke, Gedanken und Gefühle hinsichtlich des am Tage Erlebten und Gesehenen auszutauschen. Ebenso wichtig war es uns, noch einmal deutlich auf die Freiwilligkeit der Teilnahme an jedem Programmpunkt hinzuweisen.
Demzufolge bestand jederzeit die Gelegenheit, sich aus dem offiziellen Programm zurückzuziehen, die Gegend auf eigene Faust zu erkunden oder sich einfach Zeit für sich selbst zu nehmen. Wir sind der Überzeugung, dass es hinsichtlich eines solch sensiblen Themenkomplexes wie den nationalsozialistischen Verbrechen notwendig ist, dass die Teilnehmer*innen selbst entscheiden können, was sie sehen, hören und erleben wollen beziehungsweise was sie eventuell – vor allem emotional – überfordern könnte.
Diesen obligatorischen organisatorischen Ausführungen schloss sich eine ebenso obligatorische Vorstellungsrunde an, in der alle Anwesenden kurz etwas zu ihrer Person sagen konnten. Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, auch noch auf die Beweggründe und Erwartungen, die mit der Teilnahme an der Gedenkstättenfahrt in Verbindung standen, sowie auf eventuell bereits gemachte Erfahrungen mit Gedenkstätten einzugehen. Am späten Nachmittag erwartete uns schließlich der erste offizielle Programmpunkt der diesjährigen Fahrt, bei dem uns Riki – ein Mitglied unserer Organisationscrew – in Form eines Input-Referats einen Überblick über die Entstehung des so genannten „Protektorats Böhmen und Mähren“ sowie über die damit verbundene Rolle Reinhard Heydrichs gegeben hat.
Nachdem wir aufmerksam Rikis Ausführungen gelauscht sowie einige Fragen wie auch Anmerkungen geäußert hatten, machten wir uns entweder zu Fuß und via Straßenbahn auf den Weg zu einer etwas entfernt liegenden Pizzeria, in der wir zu Abend essen sollten. Dort angekommen wurden wir schon freundlich von Aletta und Wendula in Empfang genommen, die uns in den kommenden Tagen begleiten und sich aufgrund ihrer thematischen Fach- wie auch ihrer Ortskundigkeit als ausgesprochen große Hilfe erweisen sollten. Während Wendula direkt in Prag wohnt, hat Aletta immerhin eine Zeitlang hier gelebt, bevor sie wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist. Was sie verbindet, ist ihr Interesse an Geschichte, genauer gesagt an der Geschichte der Besetzung der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutschland.
Gut gestärkt legten wir noch einen Zwischenstopp in einer gemütlichen Kneipe ein. Hier bot sich eine gute Gelegenheit, um im Zuge des ein oder anderen Getränkes und im Rahmen diverser Gespräche bislang unbekannte Fahrtteilnehmer*innen näher kennen zu lernen oder mit bereits bekannten Freund*innen in Ruhe zu schwatzen. Zurück im Hostel verkrochen wir uns alsbald in unsere Betten – es sollten schließlich noch ereignisreiche Tage vor uns liegen…
Tag 2
Nachdem wir an diesem Morgen ausgiebig im Aufenthaltsraum unseres Hostels gefrühstückt hatten, beförderte uns die Metro in die Nähe der St. Cyrill und Method-Kirche, in der sich einige Widerstandskämpfer versteckt hielten, nachdem sie im Rahmen der „Operation Anthropoid“ am 27. Mai 1942 erfolgreich ein Attentat auf Reinhard Heydrich verübt hatten.
Bevor wir das Innere der ehemaligen Borromäus-Kirche, heute St. Cyrill und Method-Kirche, betraten, in der sich die Widerstandskämpfer nach ihrem Attentat versteckt hielten, besichtigten wir die an Kubis und Gabcik erinnernde Gedenktafel, die an einer Außenwand des Gebäudes befestigt worden ist, an der auch heute noch deutlich die Einschusslöcher zu sehen sind, die von der Heftigkeit der Belagerung und Erstürmung der Kirche durch die SS-Einheiten zeugen. Anschließend traten wir in einen kleinen, sich in der Kirche befindlichen Ausstellungsraum ein, der die Besucher*innen über die Entstehung des „Protektorats Böhmen und Mähren“, verschiedene Organisationen und Formen des tschechischen Widerstands inklusive des damit verbundenen Attentats auf Heydrich sowie die damit verbundenen Vergeltungsaktionen seitens der Nationalsozialist*innen – die Vernichtung der Dörfer Lidice und Lezaky – informiert. Freundlich wurden wir von einem Mitarbeiter der Gedenkstätte begrüßt, der sich sogleich in der Mitte unserer Gruppe positionierte, um einige Worte an uns zu richten, die Aletta dankenswerter Weise ins Deutsche übersetzte. Dachten wir anfänglich, er wolle uns lediglich begrüßen und uns eventuell noch einen kurzen Überblick über die Bedeutung jenes Ortes vermitteln, so entpuppte sich besagter Mitarbeiter alsbald als sehr redseliger Zeitgenosse, der zu sehr weitschweifigen wie auch detailversessenen Ausführungen neigte, die mehr und mehr unsere Konzentration und auch unsere Geduld strapazierten. Als nach gut einer Stunde immer noch kein Ende seiner Erläuterungen in Sicht war, von unserer Gruppe aber kaum noch jemand aufmerksam seinen Erklärungen folgte, bat ich Aletta unter anderem auch mit Blick auf die voranschreitende Zeit und die noch anstehenden Programmpunkte – schließlich war dieser unfreiwillige Vortrag von uns nicht eingeplant gewesen –, ihm freundlich, aber bestimmt mitzuteilen, dass er seine Ausführungen doch bitte beenden solle. Glücklicherweise zeigte er sich verständnisvoll und führte uns nun in die Krypta, bei der es sich um einen unter dem Chor oder unterhalb des Altars christlicher Kirchen befindlichen Raum handelt, der in der Regel für Heiligengräber, Reliquienschreine und Altäre dient. In diesem dunklen, nasskalten Kellergewölbe hatten sich also Gabcik und weitere Widerstandskämpfer versteckt gehalten und erbitterten Widerstand gegen die Übermacht der SS geleistet. Den Abschluss unserer Besichtigung der St. Cyrill und Method-Kirche bildete die in einem separaten Raum erfolgende Vorführung eines etwa halbstündigen Dokumentarfilmes, bei dem zeitgenössische Originalaufnahmen mit nachgestellten Spielfilmszenen kombiniert worden sind, die den Verlauf des Attentats auf Heydrich rekonstruieren.
Für die nun anstehende Mittagspause trennte sich unsere Gruppe, wobei Doreen, Janice, Caro und ich zunächst einem nur wenige hundert Meter von der Kirche entfernt liegenden Platten- und Buchladen namens Rekomando einen Besuch abstatten wollten, bevor wir uns für den weiteren Verlauf des Tages stärken würden. Der Laden war schnell gefunden und so wühlten wir uns durch das reichhaltige Angebot, das alles hergab, was das Herz begehrte, insofern es für Punk, Oi!, Hardcore, Crust und Artverwandtes schlägt. Demzufolge wurden wir auch schnell fündig: Doreen fischte eine Bikini Kill-LP heraus, während ich über ein Subhumans-Album stolperte, das ich schon seit geraumer gesucht hatte. Einziger Haken waren die recht stattlichen Preise, die sich in der Regel zwischen 14 bis 16 Euro pro Scheibe bewegten. Neben allerlei Vinyl und CDs wurden auch dutzende, wenn nicht gar hunderte Bücher zum Verkauf angeboten, deren zuweilen recht spannend klingende Titel bereits den Inhalt erahnen ließen. Da von uns jedoch leider niemand des Tschechischen mächtig ist, beließen wir es bei den beiden LPs. In Windeseile schoben wir uns anschließend angesichts akuter Zeitknappheit noch fix ein paar Pommes samt Salat zwischen die Kauleisten, bevor wir zu unserem Bus hechteten, der uns direkt vor der St. Cyrill und Method-Kirche abholte, um uns zu unserem nächsten Programmpunkt zu befördern. Hierbei handelte es sich um das rund 30 Kilometer von Prag entfernt liegende Dorf Lidice. Lidice war als Vergeltungsmaßnahme für das Attentat auf Heydrich vollständig zerstört und dessen Bewohner*innen entweder deportiert oder an Ort und Stelle hingerichtet worden sind.
Auf dem ehemaligen Gelände des Dorfes Lidice erinnert heute eine weitläufige Gedenkstättenanlage an diesen feigen, verbrecherischen Akt nationalsozialistischen Terrors. Im Nachbarraum des Eingangsbereiches des Museums, in dem ein Modell des ehemaligen Dorfes Lidice besichtigt werden kann, wurde uns auf einer riesigen Leinwand einleitend ein Film gezeigt. Der wenige Minuten umfassende Streifen verknüpfte einerseits Fotos und Filmaufnahmen, die das alltägliche Leben in Lidice vor dessen Vernichtung zeigen. Diesen Bildern schlossen sich andererseits Aufnahmen an, die von den Nationalsozialist*innen im Zuge der Vernichtung des Dorfes gemacht worden waren. Kritikwürdig empfand ich hierbei, dass abgesehen von einigen spärlichen, inhaltlich recht zusammenhangslosen Erläuterungen am Anfang im weiteren Verlauf des Films gänzlich auf Erklärungen, die das Dargestellte beschreiben und historisch einordnen, verzichtet worden ist. Ohne das nötige Vorwissen wird es Besucher*innen meines Erachtens nach schwerfallen, die gesehenen Fotos und Filmaufnahmen inhaltlich lückenlos miteinander in Einklang zu bringen. Über eine Seitentür gelangten wir schließlich in den ebenso dunklen wie auch verwinkelten Ausstellungsraum des Museums, der sich in sechs Themenkomplexe untergliedert. Auch hier widmet sich der erste Abschnitt der Ausstellung jener Zeit vor der Zerstörung Lidices, dem im zweiten Abschnitt die Vernichtung des Dorfes folgt. Daran anknüpfend geht die Ausstellung in jeweils einzelnen Bereichen auf das Schicksal der Kinder, Männer und Frauen Lidices ein: der Großteil der Kinder letztendlich im Vernichtungslager Kulmhof vergast, die Männer allesamt vor Ort erschossen, die Frauen ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Was aus den dreizehn Kindern geworden ist, die zur „Germanisierung“ in ein so genanntes Lebensborn-Heim gebracht worden sind, beleuchtet der letzte Teil der Ausstellung in Form von auf einem Fernsehbildschirm gezeigten Zeitzeug*innen-interviews.
Nachdem sich unsere Gruppe wieder vor dem Eingang zum Museum zusammengefunden hatte, überquerten wir das Gedenkstättengelände, um an jeder der dazugehörigen Stationen einen kurzen Halt einzulegen. Beginnend beim gemeinsamen Grab der ermordeten Männer von Lidice, an dessen Stelle heutzutage ein großes Holzkreuz an die Opfer dieser Vergeltungsaktion erinnert, vorbei an den erhalten gebliebenen Fundamenten der Hofes der Familie Horak, in dem die Männer erschossen worden sind, bis hin zu jener Stelle, an dem einstmals die Dorfkirche und die Schule von Lidice standen. Nachdem wir noch den ehemaligen Friedhof von Lidice besichtigt hatten, kehrten wir wieder in Richtung Museum zurück, wobei wir noch das eindrucksvolle Denkmal für die Kinderkriegsopfer passierten. Die Bildhauerin Marie Uchytilová schuf hierbei eine aus 82 Personen bestehende Bronzegruppe. Sie soll an die Kinder aus Lidice erinnern, die nach ihrer Deportation umgebracht wurden, und zugleich ein Denkmal für alle Kinder darstellen, die Opfer von Kriegen sind. Der immer wiederkehrende traurige, hoffnungslose Gesichtsausdruck der Kinder in Kombination mit den dutzenden davor von Besucher*innen niedergelegten Kuscheltiere und Blumen ließen es mir kalt den Rücken herunterlaufen. Den Schlusspunkt unseres Rundgangs bildete der „Garten der Freundschaft und des Friedens“, dessen zahllos wirkende Rosenbeete selbst in Form einer Rose angelegt worden sind. Diskussionen entspannen sich angesichts des sich im Zentrum des Gartens befindlichen Denkmals, das an verschiedene Städte erinnert, die im Zuge des Zweiten Weltkriegs stark beschädigt oder gänzlich zerstört worden sind. Ausschlaggebend für die sich entwickelnden Gespräche bildete die Frage, inwiefern es gerechtfertigt ist, neben Städten wie Coventry oder Stalingrad auch das nationalsozialistische Dresden in dieses Gedenken mit einzubeziehen, wie es bei besagtem Denkmal der Fall ist. Aufgrund eines Staus zog sich die Rückfahrt zum Hostel leider etwas in die Länge. Nachdem wir unser Quartier endlich erreicht hatten, führten wir nach einer kleinen Pause, die erste Reflexionsrunde der diesjährigen Gedenkstättenfahrt durch.
In der von mir begleiteten Reflexionsrunde besprachen wir unter anderem noch einmal, inwiefern nationalsozialistische Unterdrückung Widerstand hervorgerufen hat, auf den mit terroristischen Vergeltungsmaßnahmen reagiert wurde, die wiederum in noch stärkerem Widerstand münden konnten. Dass nationalsozialistischer Terror, wie er sich im Falle von Lidice geäußert hat, keineswegs ein Einzelfall war, sondern Methode hatte und unerschütterlich zum nationalsozialistischen System gehörte, belegen unter anderem der im Zuge des Russland-Feldzugs geführte Vernichtungskrieg oder der Terror, der beispielsweise im Rahmen der deutschen Besetzung in Jugoslawien oder Griechenland verbreitet worden ist – man denke im Falle Griechenlands zum Beispiel nur an die aufgrund angeblicher Partisanenverbindungen vernichteten Dörfer Distomo und Kalavryta!
Im Gegensatz zu den erdrückenden Informationen und Eindrücken, die wir tagsüber gesammelt und über die wir uns in den Reflexionsrunden ausgetauscht hatten, wollten wir den Abend etwas unbeschwerter ausklingen lassen. So begab sich der Großteil unserer Gruppe nach dem im Hostel eingenommenen Abendbrot zum autonomen Zentrum Klinika, das nur wenige Minuten zu Fuß von unserer Herberge entfernt lag. In dem seit 2014 besetzten, derzeitig leider räumungsbedrohten Gebäude, das ehemals zu einer Klinik gehörte, sollte an jenem Abend ein musikalisch recht facettenreiches Konzert stattfinden, in dessen Rahmen drei Bands auftreten würden. Als wir das Gelände des Klinika erreichten, wurden wir freundlich von einer Handvoll Leute begrüßt, die sich um zwei riesige Holzkabeltrommeln gruppiert hatten, die ihnen als Stehtische dienten – ein Platz, den auch wir später ansteuern sollten, um frische Luft zu schnappen, zu quatschen und Bier zu trinken. Im Vorraum des Gebäudes befindet sich neben einer Umsonstecke auch eine Fotowand, an der die Visagen einiger Anti-Antifa-Fotograf*innen begutachtet werden können. Durch eine Tür gelangt man in den Barbereich, in dem Getränke auf Spendenbasis ausgeschenkt werden, der einige Sitzgelegenheit parat hält und dessen umfangreiche Infowand zum Verweilen einladen. Auch wir haben uns einen Überblick über die zahlreichen Flyer, Broschüren, Zeitschriften und Fanzines verschafft, wobei uns jedoch größtenteils leider erneut die Sprachbarriere einen Strich durch die Rechnung machte. Nachdem wir uns mit Getränken versorgt hatten, eröffnete im eigentlichen Konzertsaal, der sich hinter dem Barraum befindet, die erste Band den Abend. Die drei Jungs von Toufar aus dem tschechischen Havlickuv Brod gaben atmosphärischen Emo-Hardcore zum Besten, bevor die ebenfalls aus Tschechien stammende Punk-Rap-Crew PTKAZ die kleine Bühne enterte. An den Mics wechselten sich verschiedene MCs ab, während meist schleppend-schwere, zuweilen auch etwas verstörend wirkende Beats den Soundtrack für deren Sprechgesang lieferten. Dabei ist die PTKAZ-Crew wie wild auf der Bühnenfläche herumgesprungen, so dass unmissverständlich klar wurde, dass sie sichtlich Freude an dem hatten, was sie uns darboten. Ein beachtlicher Teil des anwesenden Publikums tat es ihnen gleich und ließ die rostigen Knochen zappeln. Das Schlusslicht bildeten an diesem Abend Decibelles, die auf dem Flyer als Indie-Punk angekündigt worden waren, was in mir nicht unbedingt erwartungsfreudige Begeisterungsstürme hervorrief. Doch was die drei Frauen aus Frankreich hier letztendlich ablieferten, war einfach nur mitreißend: von wegen Indie-Punk – absolut grandioser, zum Teil etwas wave-lastiger Riot Grrrl-Punk dröhnte durch den Raum und ließ die Meute ausflippen! Selten habe ich einen solch langen Applaus erlebt, woraufhin sich Decibelles natürlich auch nicht für einige Zugaben zu schade waren, die erneut frenetisch abgefeiert wurden. Auch Doreen war hellauf begeistert, so dass wir uns noch eine 10“ sowie das aktuelle Album der Französinnen gönnten, bevor wir uns zum Hostel zurückbegaben. Um unseren weiterhin konstanten Bierdurst zu stillen, kehrte ein Teil unserer Gruppe noch in einer kleinen Rockn
Roll-Kneipe namens Tunel ein, die sich quasi direkt neben unserem Hostel befand. Auch nach unserer Rückkehr ins Hostel genehmigten wir uns noch ein paar Bierchen, während ich mit Pudding, der unter anderem als Bassist bei Angstbreaker aktiv ist, diverse Touranekdoten austauschte, bevor ich mich mit Jördis darüber unterhielt, wie sie damit zurechtkommt, ihren kleinen dreijährigen Sohn auf die Gedenkstättenfahrt mitgenommen zu haben. In dem Bewusstsein, einen sehr ereignisreichen Tag verlebt zu haben, legte ich mich zu später Stunde schließlich schlafen.
Tag 3
Für den Vormittag dieses nasskalten Mittwochs war im Anschluss an das obligatorische Frühstück im Hostel ursprünglich eine Stadtführung geplant, in deren Verlauf uns Aletta und Wendula diverse Sehenswürdigkeiten Prags hätten zeigen sollen. Die beiden hatten sich jedoch überlegt, statt einer Stadtführung eine Stadtrallye mit uns durchzuführen, bei der in erster Linie nicht sie, sondern wir als Gruppe aktiv werden sollten. Hierfür hatten sie drei Themen vorbereitet, denen sich jeweils eine Kleingruppe von Fahrtteilnehmer*innen widmen sollte und die uns entlang verschiedener Station durch Prag führen würde. Ähnlich wie bei einer Schnipseljagd bekamen die drei Gruppen vor dem Eingang des Hostels ihre Wegbeschreibungen sowie einen A4-Umschlag ausgehändigt, in dem sich Informationen zu den zu durchlaufenden Stationen befanden. Während sich eine Gruppe dem ehemaligen jüdischen Leben in Prag widmen und sich eine andere Orten des gegen die nationalsozialistische Besetzung gerichteten Widerstands zuwenden sollte, begab sich unsere Kleingruppe auf die Spurensuche nach Zeugnissen eben jener Okkupationsherrschaft seitens der Nationalsozialist*innen. Da Aletta und Wendula besagte Stadtführung zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal durchführten, begleiteten sie sicherheitshalber zwei der Gruppen, um sicherzugehen, dass die Wegbeschreibungen auch klar formuliert sind, so dass sich niemand verlaufen würde. Während Aletta sich zu uns gesellte, zog die dritte Gruppe währenddessen mit Riki los, die sich ebenfalls recht gut in Prag auskennt. Mit Metro und Straßenbahn haben wir erst einmal eine halbe Weltreise unternommen, um zu unseren ersten Stationen zu gelangen, die sich auf demselben Hügel wie auch der Hradschin, die Prager Burgstadt, befanden. Vorbei am ehemaligen Hauptsitz des „Reichsprotektors“ und der deutschen Protektoratsverwaltung steuerten wir auch schon die Prager Burg an, die bereits seit dem Mittelalter als traditioneller Herrscher- und Regierungssitz dient. Am 15. März 1939, dem Tag des Einmarsches der Wehrmacht in die so genannte „Rest-Tschechei“, nahm Hitler persönlich die Prager Burg in Besitz. Mit der „deutsch-tschechischen Einigung“ vom 15. März und dem „Erlass des Führers und Reichskanzlers über das Protektorat Böhmen und Mähren“ vom 16. März war die Tschechoslowakei quasi von der Landkarte verschwunden und das Protektorat errichtet. Die Burg selbst diente allerdings nicht als Sitz der Protektoratsverwaltung, sondern blieb weiterhin tschechoslowakischer Regierungssitz. Formell regierte die Regierung der ehemaligen tschechoslowakischen Republik auch im Protektorat weiter – praktisch musste sie sich aber jede Handlung vom „Reichsprotektor“ absegnen lassen und war letztendlich der NS-Herrschaft gegenüber untergeordnet und weisungsgebunden.
Nachdem wir die tolle Aussicht, die man vom Hradschin aus über Prag hat, genossen hatten, zogen wir wieder bergab in Richtung Stadt. Hierbei passierten wir unter anderem noch das ehemalige Wohnhaus von Radola Gajda, der als glühender Nationalist und Antikommunist 1925 die Narodni obec fasisticka, die Nationale faschistische Gesellschaft, nach dem Vorbild der Partei Benito Mussolinis gründete. Zwar strebte die Nationale faschistische Gesellschaft eine Zusammenarbeit mit den Nationalsozialist*innen im Zuge ihrer Okkupation der Tschechoslowakei an, doch waren diese nicht geneigt, die Macht mit Gajda und seinen Anhänger*innen zu teilen. Im Gegenteil – die Gestapo verdächtigte Gajda der Subversion und ließ ihn verhaften. Nach Kriegsende wurde er wiederum verhaftet – diesmal vom sowjetischen Geheimdienst NKWD, der ihn wegen „Förderung von Faschismus und Nazismus“ 1947 vor ein Gericht stellte, das Gajda aber nur zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilte. Wenige Monate nach seiner Entlassung starb Gajda. Unser Weg führte uns weiter über die bereits im 14. Jahrhundert errichtete, heutzutage von Tourist*innen-Massen regelrecht überlaufene Karlsbrücke, unter der die Moldau entlangfließt. Angesichts der beißenden Kälte und des einsetzenden Hungergefühls beschlossen wir, die Stadtrallye an dieser Stelle abzubrechen, obwohl wir erst fünf der insgesamt acht Stationen durchlaufen hatten. Stattdessen kehrten wir zum Mittagessen in einem indischen Restaurant ein, das kantinenartig aufgebaut war, so dass man allerlei Leckereien kosten könnte. Gestärkt begaben wir uns auf den Rückweg, auf dem wir dem nur unweit von unserem Hostel entfernt gelegenen Militärmuseum noch einen verhältnismäßig kurzen Besuch abgestattet haben. Vor dem Museum begrüßte uns bereits ein ausrangierter T-34-Panzer, während im Inneren des klobigen Gebäudes eine sich über zwei Etagen erstreckende Dauerausstellung auf uns wartete, die die Geschichte des tschechischen Militärs beginnend mit dem Ersten Weltkrieg bis hin zum antikommunistischen Widerstand nach Ende des Zweiten Weltkriegs nachzeichnet. Gezeigt werden hierbei in erster Linie zahlreiche, für das Militär typische Ausrüstungsgegenstände – allen voran natürlich verschiedenste Waffen und Uniformen. Gesteigertes Interesse riefen bei mir die Dioramen hervor, mit denen mit Hilfe von Modellpanzern, -flugzeugen und -schiffen bedeutende Schlachten des Zweiten Weltkriegs nachgestellt worden sind. Minutenlang blieb ich vor den großen gläsernen Schaukästen stehen, war fasziniert von der Detailgenauigkeit und fühlte mich sogleich in meine Kindheit zurückversetzt, als ich selbst noch mit großer Leidenschaft derartige Modelle zusammengebaut habe. Der sich im Keller des Museums befindlichen Wechselausstellung zum „Protektorat Böhmen und Mähren“ konnte ich mich aufgrund der vorangeschrittenen Zeit leider nur noch überfliegend widmen.
Nachdem nach und nach wieder alle drei Gruppen den Weg zurück ins Hostel gefunden hatten, führten wir im Aufenthaltsraum gemeinsam eine ausführliche Auswertungsrunde durch, um Aletta und Wendula konstruktives Feedback für ihre Stadtrallye zu geben: Manchmal waren einige Wegbeschreibungen etwas unklar, die ein oder andere Station passte inhaltlich nicht so recht zum entsprechenden Hauptthema der Gruppe und einige Station könnte man in Zukunft gewiss auch streichen, da die Rallye sonst einfach zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Aber das ist letztendlich alles nur der Feinschliff für eine sehr gelungen vorbereitete Stadtrallye, deren Durchführung viel Spaß gemacht hat und die in pädagogisch-didaktischer Sicht als willkommene Bereicherung zu Führung, Ausstellungsbesichtigung & Co. betrachtet werden kann.
Den zweiten Programmpunkt für diesen Tag bildete ein von Aletta im Aufenthaltsraum des Hostels durchgeführtes Input-Referat, das sich inhaltlich einerseits mit der Lage der Sinti und Roma im Nationalsozialismus allgemein und andererseits mit dem so genannten „Zigeunerlager Lety“ im Speziellen auseinandergesetzt hat, dessen Gedenkstätte wir am kommenden Tag besuchen sollten.
Nach Alettas Vortrag verbrachten wir den Abend bei Bier, Gesprächen und Musik aus dem Laptop im Aufenthaltsraum des Hostels. Ich hatte zwar noch die Adressen dreier Kneipen im petto (Nad Viktorkou, Herba Cafe, Bohuzel Bar), die mir im Vorfeld empfohlen worden waren, aber ich fühlte mich ziemlich ausgelaugt und war auch gesundheitlich stark angeschlagen, so dass ich es für das Klügste hielt, an diesem Abend keine weiteren Ausflüge zu unternehmen.
Tag 4
Nachdem wir an diesem Donnerstagmorgen gefrühstückt und anschließend aus unserem Hostel ausgecheckt hatten, brachen wir mit unserem Bus zur etwa eine Stunde entfernt liegenden Gedenkstätte des ehemaligen „Zigeunerlagers Lety“ auf.
Unweit der kleinen Gedenkstätte erblickten wir bereits auf der linken Seite eine riesige Schweinezuchtanlage, die im Laufe des Tages noch so einigen Diskussionsstoff liefern sollte. Wenige Minuten später bogen wir von der Landstraße nach links in ein Waldstück ein, das in einen sehr überschaubaren Besucher*innen-Parkplatz mündete. Außer uns hatte sich niemand auf diesen Flecken Erde verirrt, so dass es auch wenig verwunderlich war, dass weder Gedenkstätten-Mitarbeiter*innen noch eine allgemeine Information zu sehen waren. Glücklicher Weise hatten wir ja Aletta und Wendula im Schlepptau, die sich bestens mit dem Ort auskennen und uns gezielt entlang des schmalen grauen Schotterwegs zu einem Modell des ehemaligen „Zigeunerlagers Lety“ lotsten, um uns anhand dieser Miniatur den Aufbau des Lagers zu erläutern. Gegenüber des Modells befinden sich auf der anderen Seite des Weges drei rekonstruierte Baracken, die verdeutlichen, unter welch unmenschlichen Lebensbedingungen hier Sinti*zze und Rom*nja zusammengepfercht worden sind. Zuerst besichtigten wir eine rekonstruierte Wohnbaracke: gerade einmal sechs Quadratmeter, in der sich zwei doppelstöckige Holzpritschen, ein Tisch und zwei Sitzbänke sowie ein Ofen befanden, für den es aber kein Brennmaterial gab. Wie müssen die zehn (!) Bewohner*innen, die sich eine solch winzige Unterkunft teilen mussten, angesichts der grob gehauenen Holzbretter, aus denen die Baracken errichtet worden sind und durch die gerade in den kalten Jahreszeiten unaufhörlich der Wind gepfiffen hat, wohl gefroren haben? Abgesehen vom fehlenden Brennholz gab es auch kein fließendes Wasser, so dass die Sinti*zze und Rom*nja auf das schmutzige Wasser aus dem angrenzenden Teich angewiesen waren. Die hygienischen Zustände waren dementsprechend katastrophal und boten den idealen Nährboden zur Ausbreitung von Krankheiten, die letztendlich in Epidemien gipfelten. Eine weitere Baracke informierte in Form einer kleinen, auch in Englisch übersetzten Dauerausstellung über die Geschichte des „Zigeunerlagers Lety“, während eine dritte als Toilette für die Besucher*innen diente.
Als wir schließlich den schmalen Weg etwas weiter entlangschritten, gelangten wir zu einer Wiese, auf der in einigen Metern Entfernung ein Gedenkstein aus Granit zu sehen ist, der sich auf dem Gelände des ehemaligen Notfriedhofs des Lagers befindet und an die hier zu Tode gekommenen Opfer erinnern soll. Wendula gab uns einen kleinen Einblick, wie würdelos mit dem Gedenken an die hier Verstorbenen umgegangen wird, indem sie uns berichtete, dass der Mist der Schweinezuchtfarm immer wieder in unmittelbarer Nähe zu diesem Massengrab abgeladen wird, woraufhin sich ein unglaublicher Gestank in der ganzen Gegend ausbreitet. Dies sollte jedoch nicht das einzige Beispiel dafür bleiben, wie wenig Achtung den ehemaligen Häftlingen dieses Lagers auch heutzutage noch gezollt wird, einfach aus dem Grund heraus, weil es sich bei ihnen um Sinti und Roma handelt. So führten uns Aletta und Wendula im Anschluss einen Abschnitt eines Lehrpfades entlang, der von der Regierung unter Vaclav Havel, dem tschechischen Staatspräsidenten im Zeitraum von 1993 bis 2003, initiiert worden ist. Aletta und Wendula übersetzten uns die Informationstafeln, die die einzelnen Stationen des Lehrpfades bildeten, wobei wir immer mehr den Eindruck bekamen, den Verfasser_innen sei wesentlich mehr daran gelegen, immer wieder auf die Regierung Havels als Initiatorin hinzuweisen, als brauchbare Informationen zum Schicksal der Sinti und Roma zu vermitteln. Darüber hinaus ist gleich auf der ersten Tafel neben dem Informationstext das gemalte Bild einer „klassischen Zigeunerin“ abgebildet, das an Klischeehaftigkeit wohl kaum zu überbieten sein dürfte: bekleidet mit einem Kopftuch, aus dem ihre wilden Haarsträhnen hervorschauen und im Wind flattern, wirft sie uns über ihre entblößte Schulter einen lasziv-verführerischen Blick zu, der Assoziationen wie Wahrsagerei, wilde Trink- und Tanzgelage sowie sexuelle Ausschweifungen hervorruft. Gegen all diese Aktivitäten ist definitiv nichts einzuwenden, aber dass die Reproduktion derartiger Stereotype zu Verständnis und Respekt gegenüber Sinti und Roma beitragen, wage ich stark zu bezweifeln. Durch den Wald führte uns der selbsternannte Lehrpfad an der Rückseite der Schweinezuchtfarm vorbei, dessen hintere Gebäude großflächig und damit gut sichtbar mit Farbbeuteln und Graffiti attackiert worden sind. Wendula klärte uns auf, dass es immer wieder zu derartigen Protestaktionen, beispielsweise auch zur Besetzung der Zufahrtswege der Farm kommt, in deren Rahmen Aktivist*innen darauf aufmerksam machen wollen, dass sich das Gelände der Schweinezuchtfarm zu etwa einem Drittel mit dem des ehemaligen Lagergeländes deckt, wie übrigens auch eine Informationstafel neben der Farm bildhaft verdeutlicht. Verbunden mit derartigen Protesten sind die Forderungen an die Regierung, die Schweinefarm zu kaufen und zu schließen, um der Opfer des „Zigeunerlagers Lety“ in einem würdigeren Rahmen gedenken zu können. In Februar 2009 erteilte die Regierung diesem Ansinnen aus Kostengründen eine Absage. Stattdessen hat sie Ende 2009 das Gelände des ehemaligen „Zigeunerlagers Hodonin“ erworben, mit dem Ziel, dort ein Informationszentrum über die Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma zu gestalten. Bereits auf dem Rückweg zu unserem Bus eröffnete sich für viele von uns der Kontrast zwischen der Gedenkstätte Lidice auf der einen und der Gedenkstätte des „Zigeunerlagers Lety“ auf der anderen Seite. Einerseits eine weitläufige Gedenkstättenanlage, die ein modernes Museum mit einem Raum für Filmvorführungen sowie eine didaktisch sehr gut konzipierte Ausstellung umfasst und mehrere Denkmäler sowie den „Rosengarten der Freundschaft und des Friedens“ einschließt. Andererseits ein kleines Modell, drei winzige Baracken und ein aus der Ferne unscheinbar wirkender Gedenkstein – alles in unmittelbarer Nähe zu einer riesigen Schweinezuchtfarm gelegen, die nicht nur einen Teil des ehemaligen Lagers und damit des potentiellen Gedenkstättengeländes einschließt, sondern zugleich einen ekelhaften Gestank über dem ganzen Areal verbreitet. Während für Lidice bereits Anfang der 1950er Jahre Formen des Gedenkens entstanden, war dies für Lety erst 1995 der Fall. Im Falle von Lidice wurden unschuldige Zivilist*innen als Vergeltungsakt für eine Widerstandstat ermordet und deportiert, weil ihnen unterstellt worden war, sie hätten Kontakt zu den Widerstandskämpfern gehabt. Das Schicksal dieser Opfergruppe kann also in heroischer Weise, nämlich vor dem Hintergrund des auf Heydrich erfolgten Attentats interpretiert werden. Aber auch in Lety wurden Menschen ausgebeutet, gequält und dem Tode preisgegeben, die nicht minder unschuldig waren – schließlich bestand aus nationalsozialistischer Sicht ihr einziges „Vergehen“ darin, Sinti und Roma zu sein. Dass den Opfern von Lidice ansprechend gedacht wird, während den Opfern von Lety wenig bis gar keine Aufmerksamkeit geschenkt wird, eröffnet breite Interpretationsspielräume, die wir als Gruppe u.a. in der kommenden Reflexionsrunde diskutiert haben. So liegt die Vermutung nahe, dass in der tschechischen Gesellschaft und Politik – und natürlich leider nicht nur in Tschechien – auch heute noch viele Stimmen existieren, die Sinti und Roma als „arbeitsscheues Gesindel“ abstempeln, das seine Existenz nur mittels Diebstählen absichern würde. Der Schritt, einstige Lager wie jenes in Lety als „positive Einrichtungen“ zu verklären, in denen „den Zigeunern dank harter körperlicher Arbeit endlich einmal ein geordnetes Leben beigebracht“ würde, liegt da natürlich nicht weit. Dass derartigem Denken alsbald auch Taten folgen können, zeigen die vielen antiziganistischen Pogrome der vergangenen Jahre in Tschechien. Mit diesen Gedanken beschäftigt, steuerten wir unsere nächste Station – die kleine Stadt Litomerice – an. Nach einem kurzen Halt in Prag, wo wir uns von Wendula verabschiedeten, erreichten wir am Nachmittag unser Ziel und checkten im scheinbar einzigen Hostel der Stadt, das wahrscheinlich ehemals eine Schule war, ein. Nachdem wir die geräumigen Zimmer bezogen und die nähere Umgebung bereits ein wenig erkundet hatten, bot ich den Teilnehmer*innen an, bei Interesse den Dokumentarfilm „Der Letzte der Ungerechten“ zur Überbrückung der Zeit bis zum Abendessen zu zeigen. Der französische Regisseur Claude Lanzmann hatte 1975 ein vierstündiges Interview mit Benjamin Murmelstein, dem einzigen überlebenden „Judenältesten“ und letzten Vorsitzenden des Judenrates aus dem Ghetto Theresienstadt, geführt. Für seine ebenso monumentale wie auch wegweisende Dokumentation „Shoah“ hat Lanzmann die dabei entstandenen Aufnahmen jedoch nie verwendet. Stattdessen gibt es das Interview – angereichert mit vielen Bildern und Hintergrundinformationen zum Ghetto Theresienstadt – mittlerweile als eigenständige Dokumentation zu kaufen. Ich habe gerade diese Dokumentation ausgesucht, da unsere Gruppe in den kommenden beiden Tagen das nur etwas vier Kilometer entfernt liegende ehemalige Ghetto Theresienstadt besichtigen sollte. Nach etwa der Hälfte des dreieinhalbstündigen Filmes stoppte ich vorerst den Streifen, da zunächst das Abendessen anstand, bevor alle Interessierten auch die zweite Hälfte der DVD weiterschauen konnten. Derweil begab ich mich allein zu den sich etwas außerhalb von Litomerice befindlichen Überresten von „Richard I“. Hierbei handelte es sich um eine unterirdische Stollenanlage, die zum KZ-Außenlager Litomerice gehörte und in der Ende des Zweiten Weltkriegs von KZ-Häftlingen Panzermotoren gefertigt wurden. Allmählich brach die Dunkelheit über mich herein und nach einigen zurückgelegten Kilometern, ohne auch nur annähernd mein Ziel entdeckt zu haben, zweifelte ich langsam daran, auf dem richtigen Weg zu sein. Nichtsdestotrotz lief ich weiter, durchquerte schließlich auf recht abenteuerlichem Weg ein morastiges Waldgebiet und stand schließlich davor – vor dem von zwei riesigen verrosteten Eisentoren verschlossenen Zugang ins Innere der Stollenanlage von „Richard I“. Da es hier nicht weiterging, es immer dunkler wurde und außer besagtem Eingang auch nicht viel zu entdecken war, schlug ich den Weg zurück in Richtung Stadt ein. Auf dem Rückweg kam mir der Gedanke, schon einmal den genauen Weg zur Gedenkstätte des KZ-Außenlagers Litomerice zu erkunden, das sich auf dem Gelände des ehemaligen Lagerkrematoriums befindet, welches heute noch besichtigt werden kann. Gesagt, getan. Einige Minuten später stand ich schließlich auf dem jederzeit zugänglichen Gelände der Gedenkstätte, das von zahlreichen, am Boden befestigten Strahlern hell erleuchtet wurde. Nachdem ich das überschaubare Areal durchschritten hatte, kehrte ich schließlich zum Hostel zurück.
Angesichts der vorangeschrittenen Stunde entschieden wir als Gruppe, die ursprünglich eingeplante Reflexionsrunde auf den nächsten Tag zu verlegen. Um meiner Müdigkeit entgegenzukommen und auch ein wenig Rücksicht auf meine sich immer stärker bemerkbar machende Erkältung zu nehmen, beschloss ich, mich kurzerhand ins Bett zu verkriechen…
Tag 5
Im Anschluss an das Frühstück machten wir uns auf den Weg zur Gedenkstätte des ehemaligen KZ-Außenlagers Leitmeritz, die sich am Stadtrand von Litomerice befindet und von unserem Hostel zu Fuß aus eine gute Viertelstunde in Anspruch nahm.
Entgegen der im Internet zu findenden Angabe, die Gedenkstätte habe täglich von 8 bis 18 Uhr geöffnet, wies uns eine am ehemaligen Lagerkrematorium angebrachte Informationstafel darauf hin, dass erst das Personal der Gedenkstätte Theresienstadt telefonisch oder via E-Mail informiert werden müsse, von denen jemand extra anreisen würde, um das Krematorium aufzuschließen, damit man das Innere desselben besichtigen könne. Da ich dies nicht wusste, blieb uns der Zutritt zum ehemaligen Krematorium verwehrt, so dass wir uns damit begnügen mussten, das erst im April 1945 in Betrieb genommene, einstöckige Gebäude aus roten Ziegelsteinen von außen zu betrachten. Hinter dem Krematorium, das durch einen unterirdischen Kanal mit einem riesigen Schornstein verbunden ist, den man schon von Weitem her sehen kann, befindet sich ein kleiner grauer Gedenkstein, der mittels seiner tschechischen wie auch englischen Inschrift an die tausenden Häftlinge erinnert, die unter unmenschlichsten Bedingungen im KZ-Außenlager Leitmeritz Zwangsarbeit leisten mussten. Optisch imposanter gestaltet sich hingegen das riesige Denkmal, das 1992 parallel zum erwähnten Gedenkstein auf der Wiese hinter dem Krematoriumsgebäude errichtet worden ist. Aufgrund seiner einerseits realistisch-konkreten Darstellung von kläffenden Hunden, Zwangsarbeit leistenden Häftlingen und Bergwerksloren, andererseits aber auch angesichts der abstrakt-surrealen Darstellungsweise eben jener Plastiken und Gegenstände eröffnen sich verschiedene, sich auf bestimmte Details konzentrierende Interpretationsmöglichkeiten, die von den Teilnehmer_innen angeregt diskutiert wurden. Ich würde sagen, dass der für dieses Denkmal verantwortliche Künstler Jiri Sozansky verdeutlichen wollte, dass die Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern unweigerlich in den Tod führte, der in diesem Fall durch einen angedeuteten Krematoriumsschornstein dargestellt wird. Aufgrund der Tatsache, dass sich das eigentliche Konzentrationslager an anderer Stelle befand und die heutige Gedenkstätte lediglich das Krematorium, den Gedenkstein sowie das Denkmal umfasst, brachen wir nach der nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmenden Besichtigung derselben wieder in Richtung Innenstadt auf, wo wir den Teilnehmer*innen etwas Freizeit einräumten, damit diese die Gelegenheit hatten, Litomerice auf eigene Faust zu erkunden. So schlenderten wir an der Baronka-Bar vorbei, in der angesichts der überall in der Stadt verklebten Konzertplakate wohl recht regelmäßig Grindcore- und Metal-Konzerte stattfinden, überquerten den idyllisch wirkenden Marktplatz und ließen uns kurze Zeit später am Ufer der Elbe nieder, um ein wenig auszuruhen. Das sich anschließende Mittagessen nahmen wir im Kafe Doma zu uns, einem direkt am Markt, allerdings etwas versteckt in einem Hinterhof liegenden Restaurant, das vorzügliche vegetarische wie auch vegane Speisen zu sehr günstigen Konditionen anbietet. Zurück am Hostel bestiegen wir sogleich unseren Bus, der uns ins nur etwa vier Kilometer entfernte Theresienstadt beförderte. Nachdem wir die beeindruckenden Festungswallanlagen und den kleinen Stadtkern der einstigen habsburgischen Garnisonsstadt passiert hatten, bogen wir unweit der so genannten Kleinen Festung nach links auf den Besucher*innen-Parkplatz ein. Als wir alle ausgestiegen waren, erläuterte ich kurz mit Hilfe einer sich am Ausgang des Parkplatz befindlichen Übersichtskarte die bauliche Aufteilung Theresienstadts in die Kleine Festung, die ab 1940 als Gestapogefängnis für politische Häftlinge diente, und die so genannte Große Festung, die die Nationalsozialist*innen nur ein Jahr später als Ghetto umfunktionierten, in das sie im Schnitt rund 60.000 Jüd*innen aus den verschiedensten Ländern zusammenpferchten, so dass in der ganzen Zeit des Bestehens des Ghettos ca. 140.000 Jüd*innen Theresienstadt durchlaufen haben.
Zunächst besichtigten wir den 1945 errichteten Nationalfriedhof, der sich schräg gegenüber des Besucher*innen-Parkplatzes befindet. Hier wurden die Leichen des Gestapo-Gefängnisses in der Kleinen Festung, des Ghettos Theresienstadt sowie des KZ-Außenlagers Leitmeritz bestattet. Von September 1945 bis 1958 wurden die exhumierten Leichen hierher überführt und beigesetzt. 3.000 namentlich bezeichnete Einzelgräber und eine Reihe von Massengräbern mit weiteren etwa 7.000 Leichen werden von einem großen Holzkreuz überragt. Schon 1945 war ein großes Holzkreuz auf dem Nationalfriedhof errichtet worden, das 1948 unter kommunistischem Regime als christliches Symbol der Dominanz abgebaut worden war. Aufgrund einer Initiative des Bischofs von Litomerice wurde Mitte der 1990er Jahre wieder ein großes zentrales Holzkreuz aufgestellt. Diese christliche, das Areal dominierende Symbolik führte schließlich zu jüdischen Protesten, woraufhin Mitte der 1990er Jahre auch ein Davidstern in der Nähe der Massengräber aufgestellt worden ist. Wir durchschritten die sich aus hunderten kleinen Grabsteinen zusammensetzenden Reihen, passierten Holzkreuz wie auch Davidstern und betrachteten kurz die wehrhaft wirkenden Wallanlagen der gegenüberliegenden Kleinen Festung. Anschließend überquerten wir über eine Brücke den kleinen Fluss Eger, der zwischen Großer und Kleiner Festung verläuft, schlüpften durch eines der Festungstore, die Einlass in die Große Festung gewährten und legten schließlich einen kurzen Zwischenstopp am Eingang des Ghettomuseums ein, das von uns am nächsten Tag besichtigt werden sollte. Wir überquerten den unmittelbar neben dem Museum liegenden Marktplatz und passierten die so genannten Magdeburger Kasernen, in denen zur Zeit des Ghettos die jüdische Selbstverwaltung ihren Sitz hatte. Heute befindet sich hier das Begegnungszentrum der Gedenkstätte Theresienstadt, in der Bildungsprogramme stattfinden, eine rekonstruierte Gefangenenunterkunft besichtigt werden kann und eine Dauerausstellung zu finden ist, die sich verschiedenen Bereichen des kulturellen Lebens im Ghetto widmet. Unser eigentliches Ziel bildeten jedoch das etwas außerhalb der Festungsmauern gelegene Krematorium sowie der sich um selbiges erstreckende jüdische und sowjetische Friedhof. Biegt man links in den schmalen geteerten Weg in Richtung Friedhof ein, bleibt das gelbe Krematoriumsgebäude noch eine ganze Weile durch Büsche und Bäume verdeckt, wohingegen das riesige steinerne Denkmal in Form einer angedeuteten Menora, jenes siebenarmigen Leuchters, der eines der wichtigsten religiösen Symbole des Judentums darstellt, schon von Weitem hin sichtbar ist. Als wir den Rand des Friedhofsgeländes erreicht hatten, gab ich den Teilnehmer*innen einen kurzen Überblick über die Bedeutung des vor uns liegenden Geländes.
Die Räume des Krematoriums können kostenlos besichtigt werden. Betritt man das Gebäude, informiert im vorderen und hinteren, jeweils etwas kleineren Raum eine Dauerausstellung über das Leben im Ghetto Theresienstadt sowie die Bedeutung des Krematoriums im System des Ghettos. Im zentralen, länglichen Raum befinden sich immer noch die vier Verbrennungsöfen, auf denen in der Regel dutzende kleiner Teelichter stehen, die man bei dem dortigen Mitarbeiter der Gedenkstätte kaufen kann und mit denen Besucher*innen an die in Theresienstadt Verstorbenen bzw. Ermordeten erinnern. Links schließt sich zudem der geflieste Obduktionsraum an, in dessen Mitte ein großer Obduktionstisch steht. In einem Schrank werden darüber hinaus diverse medizinische Instrumente gezeigt. Nachdem ich mir überblicksartig die Dauerausstellung angeschaut und anschließend ein wenig durch die verschiedenen Bereiche des recht weitläufigen Friedhofs gegangen bin, kehrte unser Organisator*innen-Team in einer nur unweit entfernt liegenden Gaststätte ein, um in Ruhe noch einige organisatorische Fragen wie beispielsweise den konkreten Ablauf des letzten Tages unserer diesjährigen Gedenkstättenfahrt zu klären. Währenddessen hatten die Teilnehmer*innen der Fahrt die Möglichkeit, das ehemalige Ghetto Theresienstadt selbstständig zu erkunden, bevor wir uns am frühen Abend alle nach und nach wieder auf dem Parkplatz bei unserem Bus einfanden. Zurück im Hostel gönnten wir uns erst einmal das Abendessen, bevor wir anschließend in die einzelnen Reflexionsrunden gingen. Zentrale Diskussionspunkte innerhalb unserer Reflexionsrunde waren einerseits die Fragen, wie der Nationalsozialismus an die Macht gelangen konnte und welche Gründe die Menschen damals dazu bewogen haben, aktiv an diesem System mitzuwirken. Komplexe Fragen, zu deren Beantwortung keine einfachen, eindimensionalen Antworten taugen. Andererseits debattierten wir über die unterschiedlichen Formen von Erinnerungskultur, wie sie uns anhand der sehr unterschiedlich gearteten Gedenkstätten Lidice und Lety vor Augen geführt worden sind. Den Abend ließen wir schließlich noch gemütlich bei interessanten Gesprächen in Begleitung von Dosenbier oder Limonade und untermalt von allerlei verschiedener Musik, die mehr oder weniger verständlich aus den Laptopboxen schepperte, ausklingen.
Tag 6
Nachdem wir gefrühstückt und aus dem Hostel ausgecheckt hatten, brachen wir erneut per Bus in Richtung Theresienstadt auf, wo wir nach nur wenigen Minuten wiederum auf dem großen Besucher*innen-Parkplatz eintrafen, der sich schräg gegenüber des Nationalfriedhofs befindet. Zu Fuß passierten wir die kleine Allee links des Nationalfriedhofs, bis wir nach wenigen hundert Metern bereits den schwarz-weiß-gestreiften Torbogen der Kleinen Festung durchschritten, um überpünktlich an der im Torgebäude befindlichen Kasse das Ticket für die im Vorfeld gebuchte Führung zu lösen. Sogleich trat ein kleiner, recht betagter, weißhaariger Herr an uns heran, der sich als unser Guide vorstellte, welcher uns in der kommenden Stunde durch das Gelände der Kleinen Festung führen würde. Karl – so der Name unseres Guides – wies uns an, ihm in die der Kasse gegenüberliegende Seite des Torbogens zu folgen, in der sich eine kleine Ausstellung zur Entstehungsgeschichte Theresienstadts befindet. In hervorragendem Deutsch erläuterte uns Karl, dass die Garnisonsstadt unter der Herrschaft des habsburgischen Kaisers Joseph II. in den Jahren 1780 bis 1784 errichtet und nach Maria Theresia, der Mutter Joseph II., benannt worden ist. Ziel war es gewesen, mit Hilfe der gewaltigen Festungsanlage die Flussübergänge über Eger und Elbe gegen die Preußen abzusichern. Zu militärischen Auseinandersetzungen der beiden damaligen Großmächte ist es zu jener Zeit jedoch nicht gekommen, da Österreich 1791 ein Bündnis mit Preußen eingegangen ist, um gegen die 1789 ausgebrochene Französische Revolution zu Felde zu ziehen. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs im Jahre 1918 diente die Kleine Festung fortan als Militärgefängnis, in das unter anderem auch Gavrilo Princip eingesperrt worden ist. Princip hatte am 28. Juni 1914 ein tödliches Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz-Ferdinand sowie dessen Ehefrau Sophie verübt, was schließlich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs geführt hat. Der aufgrund der Haftbedingungen gesundheitlich erkrankte Princip verstarb schließlich am 28. April 1918 im Gefängnislazarett. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der mit dem Versailler Vertrag einhergehenden Gründung der Tschechoslowakei diente Theresienstadt fortan als Garnisonsstadt für die tschechoslowakische Armee. Nach den einführenden Worten zur Entstehungsgeschichte Theresienstadts verließen wir den Ausstellungsraum wieder und begaben uns nun auf einen Rundgang durch die Kleine Festung.
Wir folgten Karl nach links in einen ersten Innenhof, in dem zur Zeit der deutschen Besatzung vorrangig politische Gefangene die Aufnahmeprozedur in die Kleine Festung durchlaufen mussten, die ab 1940 als Gestapogefängnis diente. Einen zweiten Innenhof erreichten wir, indem wir einen Torbogen durchschritten, der von den Nationalsozialist*innen wie in vielen Konzentrationslagern mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei“ versehen worden war. In diesem Innenhof befindet sich unter anderem der Block A, der Sammelzellen beherbergte, in denen jeweils rund 100 Gefangene zusammengepfercht wurden, die ohne jegliche Privatsphäre eng aneinandergepresst auf Holzpritschen schlafen mussten, kein fließendes Wasser in der Zelle hatten und denen nur eine einzige, sich direkt in der Zelle befindliche Latrine zur Verfügung stand, von der ein bestialischer Gestank ausgegangen sein muss. Block B setzte sich hingegen aus Einzelzellen zusammen, die unter den Häftlingen auch als „Todeszellen“ bezeichnet worden sind, da hier diejenigen Häftlinge eingesperrt wurden, die zuvor zum Tode verurteilt worden waren. Unser Weg führte uns weiter in einen großen Waschraum, in dem sich an den Wänden links und rechts dutzende Waschbecken samt Wasserhähnen befinden, über denen zudem jeweils noch einzelne Spiegel angebracht worden sind. Im Gegensatz zur soeben beschriebenen Häftlingsrealität mangelnder sanitärer Einrichtungen war dieser Raum einzig und allein zu dem Zweck eingerichtet worden, um das Komitee des Internationalen Roten Kreuzes zu täuschen, das im Juni 1944 das Ghetto Theresienstadt auf Druck der dänischen Regierung besichtigte, um die Lebensbedingungen der in der Großen Festung ghettoisierten Jüdinnen und Juden sowie der in der Kleinen Festung inhaftierten Gefangenen zu untersuchen. Durch Blendwerk wie den beschriebenen, nie genutzten Waschraum sollte dem Komitee des Internationalen Roten Kreuzes vorgegaukelt werden, Jüdinnen und Juden wie auch politische Häftlinge würden hier unter normalen menschenwürdigen Bedingungen leben – ein Täuschungsmanöver der Nationalsozialist*innen, das problemlos sein Ziel erreichte.
Dass der Tod entgegen all der Täuschungen der ständige Begleiter der in Theresienstadt Eingesperrten war, belegen unter anderem die Erschießungsmauer und der Galgen, die wir erreichten, nachdem wir einen schmalen unterirdischen Gang passiert hatten, der von den Nationalsozialist*innen jedoch ungenutzt geblieben ist. Hatte jene Mauer dem tschechoslowakischen Militär noch zu Schießübungen gedient, wurden hier unter deutscher Besatzung etwa 250 Häftlinge hingerichtet. Ein sich an Erschießungsmauer und Galgen anschließendes Mahnmal, die eine von Leid und Qual geprägte Menschengruppe zeigt, greift die Schrecken, die von diesem Ort ausgingen, sehr eindrucksvoll auf. Im krassen Kontrast hierzu steht wiederum das Bassin, das sich gegenüber der Kommandantenvilla befindet und von Häftlingen zwangsweise errichtet werden musste, um der Familie des Kommandanten die Gelegenheit zu verschaffen, bei schönem Wetter im Freien baden gehen zu können.
An dieser Stelle verabschiedete sich Karl von uns, ohne der Gruppe die Möglichkeit einzuräumen, noch einmal Nachfragen stellen zu können, was ich als wenig professionell empfand. Ohnehin hatte ich den Eindruck, dass uns unser Guide wenig Zeit gelassen hat, um uns in Ruhe alles anzuschauen und das Gelände der Gedenkstätte auf uns wirken zu lassen – bei solch einem sensiblen Thema regelrecht vorneweg zu hetzen, halte ich jedenfalls für äußerst kontraproduktiv.
Den vor seiner Verabschiedung von Karl angekündigten Schlusspunkt der Führung bildete der Film „Die geschenkte Stadt“, der von Besucher*innen in verschiedenen Sprachen in einem kleinen Kinosaal angeschaut werden kann. Auch hierbei handelt es sich um ein Relikt nationalsozialistischer Propaganda, mit deren Hilfe die eigentlichen katastrophalen Lebensbedingungen im Ghetto vertuscht werden sollten. So wird beispielsweise ein in einem großen Innenhof stattfindendes Fußballspiel präsentiert, bei dem sich rasante Spielszenen mit Großaufnahmen von den auf den Zuschauerrängen sitzenden, angespannt zuschauenden, zum Teil euphorisch jubelnden Ghetto-Bewohner*innen abwechseln. Die reinste Farce, wenn man bedenkt, dass nach den Dreharbeiten die meisten Schauspieler ins Vernichtungslager von Auschwitz deportiert und viele von ihnen dort ermordet worden sind. Im März 1945 wurde der Film im besetzten Prag erstmals aufgeführt, galt anschließend als verschollen, bis 1964 schließlich ein 15-minütiges Fragment desselben wieder aufgefunden worden ist. Um die propagandistische Wirkabsicht des Films nicht zu reproduzieren, sondern selbige zu dekonstruieren, wurden während des Films Deportationszüge, die aus Theresienstadt in verschiedene Konzentrations- und Vernichtungslager abgefahren sind, sowie deren dazugehörige Anzahl an Deportierten sowie die Anzahl an Überlebenden benannt.
Von den in der Regel jeweils 1.000 deportierten Personen überlebte oftmals nicht einmal eine Handvoll. Dieser Kontrast aus fröhlich wirkenden, jedoch durchweg inszenierten Bildern einerseits und erschütternden, darüber gesprochenen Daten von Deportierten und Überlebenden andererseits hat unsere Gruppe sichtlich bewegt. Nachdem wir das Gebäude, in dem sich der Kinosaal befindet, wieder verlassen hatten und einige Meter gegangen waren, entdeckten wir linkerhand einen weiteren, mit grauem Schotter ausgelegten Innenhof, der links wie auch rechts von Zellenblöcken gesäumt wird. Als wir den geräumigen Hof betreten hatten, klärten uns eine Informationstafel sowie eine kleine Ausstellung darüber auf, dass dieser Abschnitt der Kleinen Festung nach der Befreiung Theresienstadts durch die Rote Armee am 08. Mai 1945 als Internierungslager für Deutsche genutzt worden ist.
Warum unser Guide im Rahmen seiner Führung nicht auch auf die Geschichte der Kleinen Festung nach 1945 eingegangen ist, hat sich mir angesichts der Tatsache, dass er uns im Vergleich dazu ja auch die Entstehungsgeschichte Theresienstadts recht ausführlich erläutert hat, nicht ganz erschlossen. Im von außen etwas unscheinbar wirkenden Museumsshop habe ich mich anschließend noch mit diversen Büchern und DVDs rund um das Thema Theresienstadt eingedeckt, die dort in verschiedenen Sprachen zu fairen Preisen zum Kauf angeboten werden. Im Anschluss besuchten wir eine informative Ausstellung, die sich abgesehen von einem einführenden Überblick zur Entstehung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ in erster Linie mit den Haftbedingungen in der Kleinen Festung auseinandersetzt. Die mangelnde medizinische Versorgung, die Formen der Zwangsarbeit, die die Häftlinge verrichten mussten, oder die Einzelschicksale dutzender hingerichteter Häftlinge bilden ebenso Bestandteile der Ausstellung wie auch Möglichkeiten des Widerstands – so zum Beispiel in Form von Briefen beziehungsweise kleinen künstlerischen Erzeugnissen der Häftlinge – oder eine Rekonstruktion der wenigen Fluchtversuche. Da unser Zeitplan recht eng gesteckt war, fehlte uns leider die Zeit, uns im Detail mit jener Ausstellung zu beschäftigen – immerhin stand bis zur Teilnahme an der geplanten Gedenkveranstaltung unserer Gruppe auch noch der Besuch des Ghettomuseums sowie das individuell zu erledigende Mittagessen auf dem Programm.
Zügigen Schrittes bewegten wir uns demzufolge in den Stadtkern Theresienstadts, wo wir zielsicher in eine Pizzeria einkehrten. Gut gesättigt, aber leider immer noch unter Zeitdruck stehend, besichtigten wir nun das nur wenige Meter von der Pizzeria entfernt liegende Ghettomuseum, das sich im Gebäude der ehemaligen Schule Theresienstadts befindet. Zahlreiche Zeichnungen von einstmals im Ghetto eingesperrten jüdischen Kindern bilden den ersten Teil der sich über zwei Etagen erstreckenden Ausstellung.
Die zumeist farbenfrohen Zeichnungen spiegeln einerseits das einstige Leben in Freiheit, andererseits aber auch die harten Lebensbedingungen des Ghettoalltags wider. Gemein ist all diesen Bildern, dass sie die Besucher*innen emotional ergreifen – vor allem dann, wenn man sich angesichts der dazugehörigen Informationen vor Augen führt, dass der überwiegende Großteil dieser Kinder in Konzentrations- und Vernichtungslagern wie Auschwitz ermordet worden ist. Um diese Kinder und Jugendlichen, die entweder im Ghetto selbst oder im Anschluss an die Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslagern umkamen, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, finden sich zudem die Namen von insgesamt 8.000 dieser Kinder und Jugendlichen an den Wänden des zweiten Ausstellungsraumes wieder. Ergänzt wird diese Fülle an Namen durch Beispiele dichterischen beziehungsweise journalistischen Schaffens seitens der Kinder und Jugendlichen.
Über das Treppenhaus, das mit einer Collage aus weiteren Kinderzeichnungen ausgestaltet worden ist, erreicht man das erste Obergeschoss, in dem sich der historisch-dokumentarische Hauptteil der Ausstellung wiederfindet. Ausgehend von der antisemitischen Ideologie und politischen Praxis des Nationalsozialismus, die nach der Besetzung auch auf die von Deutschland okkupierten Länder übertragen wurde, liegt das inhaltliche Hauptaugenmerk auf der Etablierung antijüdischer Maßnahmen im „Protektorat Böhmen und Mähren“. Daran anknüpfend wird im nächsten Abschnitt der Ausstellung in chronologischer Reihenfolge die Geschichte des Ghettos Theresienstadt festgehalten und dessen Grundfunktionen im Rahmen der so genannten „Endlösung der Judenfrage“ erklärt. Der größte Raum jener Ausstellung widmet sich verschiedenen Bereichen des alltäglichen Lebens im Ghetto. In thematischen Blöcken werden hier Formen des Widerstands und der Solidarität, die breite Skala kultureller wie auch religiöser Aktivitäten, die dabei halfen, die Gefangenen seelisch zu stärken, andererseits aber auch enormer Platzmangel, Hunger, die Arbeitseinsätze, der Tod oder der Kampf um die Rettung des Lebens von Mitgefangenen in den Fokus von Information und Erinnerung gerückt. Der letzte Raum der Ausstellung bettet das Ghetto Theresienstadt erneut in den Kontext der Shoa ein, indem an dieser Stelle aufgezeigt wird, in welche Konzentrations- und Vernichtungslager die Ghettobewohner*innen schließlich deportiert worden sind: Maly Trostinez, Kulmhof, Treblinka, Majdanek, Auschwitz usw. Von den 87.000 Menschen, die von Theresienstadt aus in jene Lager im Osten deportiert worden sind, haben letztendlich gerade einmal 3.600 die Befreiung erlebt – alle anderen wurden sofort nach ihrer Ankunft gezielt ermordet oder allmählich – oftmals in Form von Zwangsarbeit – zu Tode gequält.
Es ärgerte mich, dass uns angesichts unseres Programmablaufs wie schon erwähnt nur recht wenig Zeit blieb, um all die im Ghettomuseum vermittelten Informationen in Ruhe auf uns wirken zu lassen. Angesichts der vorangeschrittenen Stunde galt es leider vielmehr, allmählich in Richtung des jüdischen Friedhofs aufzubrechen, wo wir den Teilnehmer*innen der Gedenkstättenfahrt die Möglichkeit geboten haben, an einer kleinen gruppeninternen Gedenkveranstaltung teilzunehmen. Um diesem emotional oftmals sehr bewegenden Moment genügend individuellen Freiraum zu geben, haben wir es den Teilnehmer*innen wie immer freigestellt, ob sie die Gedenkzeremonie allein oder gemeinsam innerhalb einer kleinen Gruppe durchführen wollen. Während Riki im Beisein etwa einer Handvoll Teilnehmer*innen das Gedicht „Poem“ von Selma Meerbaum-Eisinger aus dem Jahre 1941 an dem großen, weithin sichtbaren Mahnmal verlesen hat, das symbolisch eine Menora darstellt, zogen es Doreen und ich wie auch etliche andere Mitreisende vor, lieber allein zu gedenken.
Langsam und leise bewegten Doreen und ich uns in den hinteren Bereich des Friedhofs, auf dem ein schwarzes Mahnmal zu finden ist, auf dem in goldener Schrift u.a. all jene Länder eingemeißelt worden sind, aus denen die in Theresienstadt ums Leben gekommenen Jüdinnen und Juden ursprünglich stammten. Bedächtig entzündeten wir ein kleines Grablicht, das Sandra und Riki zuvor für alle interessierten Teilnehmer*innen besorgt hatten, und stellten es vorsichtig in eine Ecke des Mahnmals, um die kleine Flamme der Kerze vor dem recht stark wehenden Wind zu schützen. Nachdenklich bewegten wir uns in Richtung des kleinen Parkplatzes unweit des Friedhofs, auf dem unser Bus stand. Den letzten Punkt der diesjährigen Gedenkstättenfahrt bildete die Abschlussreflexion, die wir wie jedes Jahr gemeinsam mit allen Teilnehmer*innen in der großen Gruppe durchführen wollten. Wie schon in den Jahren zuvor erwies es sich auch diesmal als äußerst schwierig, einen geeigneten Raum für jene Reflexionsrunde zu finden: der Wirt einer nahe gelegenen Gaststätte stellte sich quer, uns seine Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, da er – warum auch immer – nicht wollte, dass wir Tische und Stühle verrücken würden, um einen für die Reflexion geeigneten Gesprächskreis zu bilden; aber auch die Möglichkeit, die Abschlussreflexion im Freien durchzuführen, erwies sich aufgrund des windigen und zum Teil auch regnerischen Wetters unvorteilhaft. Als Notlösung kam nur noch der Bus in Frage, in dem wir im Gegensatz zum Restaurant ungestört waren und der uns vor Wind und Regen schützen würde. Da wir ja dieses Jahr nur eine vergleichsweise recht kleine Gruppe waren, fanden wir alle auf den hinteren Reihen im Inneren des Busses Platz, wenngleich die Sitzordnung nur bedingt geeignet war, um vernünftig miteinander in den Austausch zu treten. Als wesentlich problematischer erwies sich rückblickend jedoch die Tatsache, dass wir die Abschlussreflexion direkt im Anschluss an die Gedenkveranstaltung durchgeführt haben. Demzufolge waren einige Teilnehmer*innen gedanklich wie auch emotional noch nicht wieder vollends dazu bereit, die Ereignisse der vergangenen Tage vor ihrem inneren Auge noch einmal Revue passieren zu lassen, um daran anknüpfend Lob wie auch Kritik zu äußern. So war die Reflexion von längeren Schweigemomenten geprägt und verlief eher schleppend – einige Teilnehmer*innen entschieden sich auch dafür, uns ihr Feedback ausschließlich schriftlich und nicht mündlich mitzuteilen.
Zusammenfassend betrachtet hat es vielen Teilnehmer*innen an jenem Tag an Zeit gemangelt, um sich im Anschluss an die Führung die verschiedenen Ausstellungen in der Kleinen Festung wie auch im Ghettomuseum in Ruhe anschauen zu können. In diesem Zusammenhang wurde auch kritisiert, dass wir am Tag zuvor verhältnismäßig viel Freizeit hatten, so dass es in der Rückschau besser gewesen wäre, die Programmpunkte der Tage Freitag und Samstag miteinander zu tauschen. Inwiefern dies möglich gewesen wäre, hätte ich spontan klären müssen, da ich die Führung wie auch die Besichtigung des Ghettomuseums eben für Samstag gebucht hatte – und das wohlgemerkt bereits im November des vorangegangenen Jahres. Ein weiterer Kritikpunkt stellte die direkte Aufeinanderfolge von Gedenkveranstaltung und Abschlussreflexion dar, die den Teilnehmer*innen wie schon erwähnt wenig Zeit gelassen hat, um einerseits das Gedenken vorerst abzuschließen und andererseits schon einmal Punkte für die Abschlussreflexion zu sammeln. Neben diesen Kritikpunkten erntete unser Organisationsteam jedoch auch viel Lob. Mehrfach wurden beispielsweise der Einbezug von ortskundigen Personen – in diesem Falle Aletta und Wendula –, aber auch das Fachwissen unsererseits sowie unsere Flexibilität genannt, spontan auf Wünsche bzw. Bedürfnisse seitens der Gruppe einzugehen oder lösungsorientiert mit plötzlich auftretenden Problemen umzugehen. Während uns diese lobenden Worte bestärkten, auch weiterhin den Organisationsaufwand für derartige Gedenkstättenfahrten auf uns zu nehmen, betrachteten wir die genannten Kritikpunkte als konstruktive Hinweise, welche organisatorischen Fallstricke von uns zukünftig intensiver bedacht bzw. vermieden werden sollten. Den Kopf voller Informationen und Eindrücke, die es zu strukturieren und eventuell im Selbststudium zu erweitern gilt, den Bauch voller Emotionen, die erst einmal verarbeitet werden müssen, traten wir am späten Nachmittag dieses wechselhaften Samstags schließlich den Heimweg in Richtung Sachsen an.
Auf der Seite Überblick Gedenkstättenfahrten sind alle Bildungsreisen aufgelistet, die der Verein seit seiner Gründung durchgeführt hat.